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Titel
Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke


Autor(en)
Van Reybrouck, David
Erschienen
Berlin 2022: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
751 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Frey, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

In den Niederlanden sorgte das Erscheinen der Originalausgabe im November 2020 für einige Furore. Journalisten witterten die Chance, einer seit Mitte der 2010er-Jahre geführten öffentlichen Debatte um die massenhafte, strukturelle und systematische Anwendung von Gewalt durch niederländische Truppen im indonesischen Unabhängigkeitskrieg (1945–1949) neue Nahrung zuführen zu können.1 Zwei Jahre später folgte die von Andreas Ecke mustergültig besorgte Übersetzung ins Deutsche. Auch hier wurde das Buch von Kultursendern und Medien enthusiastisch gelobt. Die englische Ausgabe ist seit einigen Wochen auf dem Markt, und die ersten Rezensionen etwa im „Guardian“ deuten auf eine ähnlich positive Aufnahme hin.2 Das ist gut, denn das Buch handelt von einem Thema, das abseits der kleinen Fachcommunities von Indonesien-Interessierten weithin unbekannt ist: den letzten Jahren der niederländischen Kolonialherrschaft in Indonesien, der japanischen Besetzung des Landes während des Zweiten Weltkrieges und dem nachfolgenden Unabhängigkeitskrieg.

Historikerinnen und Historiker mag der Medienhype um eine „monumentale“, in „fünf Jahren“ recherchierte Darstellung vielleicht unangenehm oder auch neidvoll berühren. Doch Van Reybrouck gelingt es, die spätkoloniale Geschichte Indonesiens und der Niederlande auf eine äußerst ansprechende, phasenweise schockierende und gelegentlich überraschende Weise zu entfalten. Van Reybrouck, der flämische Historiker, Schriftsteller und Essayist, kann schreiben. Und er bedient meisterhaft das Bedürfnis seines Publikums nach human agency, nach Emotionen, nach Atmosphäre. Dafür hat er fast zweihundert Interviews mit Überlebenden geführt und ist bis nach Nepal und Japan gereist, um neunzigjährige Zeitzeugen zu finden. Deren Aussagen verleihen der Darstellung nicht wirklich mehr Substanz, aber sie erwecken die Geschichte zum Leben, verweben die Vergangenheit mit der Gegenwart und verleihen der Erzählung etwas zutiefst Menschliches.

Das Sujet selbst ist nicht neu, und es wird seit knapp zehn Jahren in den Niederlanden wieder einmal verstärkt beforscht und diskutiert: der repressive Charakter spätkolonialer niederländischer Herrschaft, ihr alltäglicher und zutiefst institutionalisierter Rassismus, und eben das Kriegsrecht und das Völkerrecht ignorierende gewalthafte Vorgehen des niederländischen Militärs im Unabhängigkeitskrieg.3 So bilden neben den Interviews einige zeitgenössische Quellen, aber vor allem eine reichhaltige historische Literatur aus fünf Jahrzehnten die Basis der Darstellung.

Nach einer Einführung zum Handelsreich der Vereinigten Ostindischen Kompanie im 17. und 18. Jahrhundert beziehungsweise der territorialen Konsolidierung des Kolonialreiches im 19. Jahrhundert gewinnt das 20. Jahrhundert an darstellerischer Dichte. Van Reybrouck beschreibt kenntnisreich die Entstehung unterschiedlicher indonesischer Nationalismen. Die koloniale Gesellschaftsstruktur entfaltet er mit dem Bild eines Passagierschiffs, auf dem die verschiedenen Schichten, strikt voneinander abgegrenzt, auf unterschiedlich ausgestatteten Decks reisen – ein einprägsames Motiv, auf das er immer wieder zurückkommt. Das koloniale Regime der Vorkriegszeit charakterisiert Van Reybrouck treffend als „Polizeistaat“ (S. 157).

Die Entwicklungen in Indonesien während des Zweiten Weltkrieges, zumeist eher Regionalwissenschaftlern unmittelbar zugänglich, erfahren hier eine breite Aufmerksamkeit, spielten sie doch eine „entscheidende Rolle für den Ausbruch der indonesischen Revolution“ (S. 213). Militärgeschichtliche Abschnitte mit lebendig erzählten Operationsgeschichten wechseln sich mit Überlegungen zur Politisierung und Militarisierung der indonesischen Gesellschaft während der japanischen Besatzungszeit ab. Ausbeutung, auch sexuelle Ausbeutung, und Plünderungen entwickelten sich zum bestimmenden Faktor der japanischen Besatzung. In der großen, von den Japanern herbeigeführten Hungersnot von 1944 auf Java kamen geschätzte vier Millionen Menschen ums Leben. Eindrucksvoll schildert Van Reybrouck die Wirkungen des „mörderischen Systems“ der Japaner auf die Jugend Indonesiens: „Die Pemudas, das waren die jungen Leute, die erlebt hatten, dass ihre Mütter verhungerten, ihre Väter als Zwangsarbeiter verschwanden, ihre Schwestern als Trostfrauen verschleppt wurden. Die Pemudas, das waren die mageren, drahtigen Jungen, die endlos darauf gedrillt worden waren, mit nichts als Bambusspeeren, Stöcken und hölzernen Gewehrattrappen brüllend auf den Feind loszustürmen.“ (S. 341)

Auf den folgenden 240 Seiten widmet sich Van Reybrouck der eigentlichen „Revolution“, den Jahren 1945 bis 1949, und zwar primär aus diplomatie- und militärgeschichtlichen Perspektiven. Die Entwicklungen werden spannend geschildert und verdienen die ausführliche Behandlung. Die auf Seiten der indonesischen Republik Kämpfenden bildeten im globalen Vergleich eine erste militärisch und paramilitärisch organisierte Befreiungsbewegung, die gegen eine Kolonialmacht auftrat. Ihre südostasiatischen Verbindungen etwa nach Thailand, auf die Philippinen, Malaya oder Vietnam sind, im Unterschied zu den besser dokumentierten regionalen Netzwerken des Viet Minh in Indochina, noch nicht erforscht.4 Sie sind also auch nicht Gegenstand dieser Darstellung. Auf niederländischer Seite handelte es sich um die größte Militäroperation der niederländischen Geschichte, vergleichbar nur mit dem Krieg Frankreichs in Algerien.

Der Krieg endete, so Van Reybrouck, aus drei Gründen. Erstens wechselten die indonesischen Verbündeten der Niederlande, die alte Feudalelite, die Seite, und schlossen sich der indonesischen Republik unter Sukarno und Hatta an. Damit verloren die Niederlande die letzten einheimischen Verbündeten. Zweitens wechselten auch die Vereinigten Staaten die Seite. Sie kündigten 1949 die Unterstützung für die Niederlande auf, weil sie in einer nicht-kommunistischen Republik die Kraft der Zukunft erkannten. Drittens hatten sich die Niederlande in einen klassischen imperial overstretch begeben, in dem die Kriegsaufwendungen die wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten des Landes überforderten.

Ein letztes Kapitel, „Im Morgenlicht. Die indonesische Revolution und die Welt nach 1950“, greift die Kapitalismus-Kritik der einleitenden Abschnitte auf und verknüpft sie mit dem Raubbau an der Natur und der Klimakrise unserer Zeit. Dabei gerät die Konferenz afro-asiatischer Länder in Bandung im Jahre 1955 in den Blick, die eine politische Alternative zur Blockbildung des Kalten Krieges aufzeigte, aber auch im Norden wie im Süden Anlass zu weiteren intra-regionalen Kooperationen gab. Ich würde die Bedeutung des indonesischen Unabhängigkeitskrieges für globale politische Entwicklungen in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich niedriger ansetzen. Sukarno genoss zwar zweifellos das Rampenlicht der globalen Öffentlichkeit. Letztlich aber war auch ihm klar, dass das junge unabhängige Indonesien mit seinen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ethnischen Problemen viel zu zerrissen war, als dass es als Modell oder Motor einer alternativen Ordnung hätte dienen können.

Was nach der Lektüre dieses äußerst anregenden und meisterhaft formulierten Buches bleibt, ist nicht nur eine vertiefte Kenntnis spätkolonialer niederländischer Herrschaft und des Unabhängigkeitskrieges, sondern auch die Gewissheit, wie eng verwoben der Kolonialismus mit der Entstehung einer kapitalistischen globalen Ordnung ist.

Anmerkungen:
1 2016 führte die niederländische Veröffentlichung der Berner Dissertation von Rémy Limpach über Gewalt im indonesischen Unabhängigkeitskrieg zur Finanzierung eines großen Forschungsprojekts zum Unabhängigkeitskrieg durch den niederländischen Staat. Siehe Rémy Limpach, De brandende kampongs van Generaal Spoor, Amsterdam 2016. Informationen zum Projekt „Independence, decolonization, violence, and war in Indonesia, 1945–1950“ und seinen Veröffentlichungen siehe https://www.niod.nl/en/projects/independence-decolonization-violence-and-war-indonesia-1945-1950 (01.03.2024).
2 Charlie English, Revolusi by David Van Reybrouck, review – Indonesia’s fight for freedom, https://www.theguardian.com/books/2024/feb/08/revolusi-by-david-van-reybrouck-review-indonesias-fight-for-freedom (26.02.2024).
3 Petra Groen u.a., Krijgsgeweld en Kolonie. Opkomst en ondergang van Nederland als koloniale mogendheid, Amsterdam 2021.
4 Christopher E. Goscha, Thailand and the Southeast Asian Networks of The Vietnamese Revolution, 1885–1954, London 2016.